Warum diese Fragen Third Culture Kids immer wieder verzweifeln lassen.
Third Culture Kids (TCK) haben einen großen Teil ihrer Entwicklungsjahre im Ausland oder gar auf verschiedenen Kontinenten gelebt. Sie haben neben der Kultur der Eltern, Zugang zu weiteren Sprachen und kulturellen Begebenheiten der Gastländer. Je häufiger Umzüge stattfinden, desto mehr werden unterschiedliche kulturelle Erfahrungen als Teil ihrer Identität integriert. Fragen zu ihrer Herkunft oder Identität können sie oft nur schwer beantworten oder sie entwickeln Strategien damit umzugehen.
Die Identitätsbildung wird in der Entwicklungspsychologie als eine lebenslange Aufgabe verstanden, deren Wurzeln in der frühen Kindheit liegen und für deren Entwicklungsprozesse die frühe und mittlere Kindheit die Basis der eigenen Identität bilden. Die Identitätsentwicklung von Third Culture Kids ist von denen anderer Kinder abweichend. In meinem Artikel möchte ich einen kurzen Überblick über die wissenschaftliche Forschung zur Identitätsentwicklung geben, und um meine Erfahrungen aus der Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen TCKs ergänzen.
„Identität, das ist der Schnittpunkt zwischen dem, was eine Person sein will,
und dem, was die Umwelt ihr gestattet.“ (Erik Erikson)
Bindung als Basis der Identität
Die entscheidende Phase für die Entwicklung der eigenen Identität ist die Adoleszenz. Neben den Eltern haben vor allem Gleichaltrige und die Kultur maßgeblichen Einfluss auf die Identitätsentwicklung. Wichtige Grundlage für eine gelingende Identitätsbildung in dieser Zeit, ist eine sichere Bindung an die Eltern und ein gleichzeitig stattfindender Ablösungsprozess von den Eltern. Identitätsentwicklung (identity development) umfasst Bereiche der Selbstwahrnehmung wie etwa das Geschlecht, die Arten der Gruppenzugehörigkeit, persönliche Merkmale oder eigene Kompetenzen. Bereits in der Schwangerschaft beeinflussen zahlreiche Umweltfaktoren die weitere Entwicklung, etwa körperlicher oder psychischer Stress, dem die Mutter während der Schwangerschaft ausgesetzt ist. Schon vor der Geburt werden bestimmte kulturelle Codes wie Sprachmuster oder Geschmacksempfindungen geprägt. Und auch die genetische oder chromosomale Identität beeinflusst die Persönlichkeit eines Menschen ein gesamtes Leben lang. Durch die Bindungsforschung wissen wir, dass die Erfahrungen, die Menschen in den ersten Lebensjahren machen, ganz entscheidend für die Ausprägung der Identität sind.
Identität in einer globalisierten Welt
Seit den 1970er Jahren verändern sich die Lebensbedingungen rasant; besonders ein schneller Wandel technischer Möglichkeiten und eine zunehmende Globalität tragen vermehrt zur Verunsicherung bei und verlängern den Übergang vom Jugend- ins Erwachsenenalter. Bei TCKs ist die Phase des Erwachsenwerdens, die sogenannte Adoleszenz, vor allem dadurch verlängert, weil die häufigen Wechsel des Wohnorts eine engere Bindung an die Eltern mit sich bringen. So zögert sich die Autonomieentwicklung und die Individuation mehr heraus, als bei Jugendlichen, die an einem Ort aufwachsen. Bei der Identitätsfindung geht es einerseits darum, sich mit eigenen Selbstdefinitionen auseinander zu setzen, um zu entscheiden, welche Werte erhalten bleiben sollen, andererseits, geht es aber auch darum, sich von Merkmalen oder Rollen abzugrenzen, die ein Mensch nicht mehr sein möchte. Häufige Veränderungen beeinflussen die noch nicht abgeschlossene Persönlichkeitsentwicklung und können in sensiblen Phasen zu Unsicherheiten oder Krisen führen.
Auslandserfahrung als Bereicherung
Doch die meisten jungen Menschen entwickeln durch die Auslandserfahrung viel Resilienz. Jugendliche, die eine Zeitlang im Ausland verbringen, verbessern ihre Sprachfähigkeiten, werden selbstständiger und erleben Identitätskrisen, die sie zwar kurzzeitig erschüttern, schließlich aber nachhaltig stärken. Durch die neuen Eindrücke und Erfahrungen mit anderen Menschen und Kulturen, hinterfragen Jugendliche ihr Selbstbild stärker und durchleben Identitätskrisen, die sich im Nachhinein oft als positiv für die eigene Identitätsentwicklung herausstellen. Sie bilden ein hohes Maß an Anpassungsfähigkeit und Flexibilität aus und sind in der Regel ausgezeichnete Beobachter. Sie entwickeln die Kompetenz soziale Interaktionen „lesen und kopieren“ zu können, egal in welchem kulturellen Kontext sie sich befinden. Ihr kultureller Erfahrungsschatz ist um ein Vielfaches höher als der vieler älterer Menschen, die in einem Land wohnen bleiben.
Familie als Anker
In ihrer Kernfamilie erleben TCKs Zugehörigkeit und Kontinuität, diese bilden eine wichtige Basis für das Empfinden von Sicherheit und angenommen Sein. Ein weiterer Anker stellen die Beziehungen dar, die TCKs untereinander haben, denn Verbindungen mit Gleichgesinnten stellen eine große Quelle von Zugehörigkeit und Heimat dar. Da TCKs sich meist weder in ihrem Passland noch in ihrem Gastland zugehörig fühlen, bilden Familie und andere TCKs einen haltgebenden Rahmen, in dem tiefe Verbundenheit und soziale Zugehörigkeit erfahren werden können. Zugehörigkeit wird als eines der menschlichen Grundbedürfnisse angesehen, durch welche sozialer Rückhalt und Bestätigung erlebt werden kann. Zugehörigkeit bietet die Sicherheit sich mit all seinen Facetten zeigen zu dürfen und sich auch emotional öffnen zu können.
Typen der Identitätsentwicklung
In der Fachliteratur werden drei Typen beschrieben, die ich gerne kurz vorstellen möchte:
In einer hybriden Identität verschmelzen verschiedene Kulturen miteinander; scheinbar unvereinbare Erfahrungen oder sogar gegensätzliche Werte werden vereint. TCKs mit einer solchen Identität zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass es wechselseitige Überschneidungen und eine Durchdringung heterogener Kulturen gibt. Sie können mit mehreren Identitäten identifiziert sein und entwickeln die Kompetenz, intuitiv zwischen verschiedenen kulturellen Identitäten zu wechseln (identity switching). Manchmal wird diese Identität auch als „Nicht-Identität“ bezeichnet, da sich diese TCKs nicht in Bezug auf eine Kultur positionieren.
Wenn TCKs sich besonders über die Abgrenzung von anderen definieren, spricht man von Anti-Identität. Eine solche Identität zeichnet sich vor allem durch Besonders-sein, Anders-sein oder Nicht normal-Sein aus. Sie entwickelt sich häufig bei TCKs, die sich in ihrem sozialen Umfeld als Außenseiter erlebt haben und dadurch mehr darüber erfahren, wer sie nicht sind, als darüber, wie sie sind.
Es gibt auch TCKs, die die Unterschiede zwischen sich und ihrer Umgebung durch Anpassung oder Verschweigen bewältigen. Sie versuchen auf diese Weise ein akzeptierter Teil der (monokulturellen) Mehrheitsgesellschaft zu sein und unterdrücken einen wesentlichen Anteil ihrer multikulturellen Identität. Sie bilden eine angepasste eindeutige Identität aus, die es ihnen ermöglicht äußere Konflikte und soziale Ausgrenzung zu vermeiden.
Herausforderungen in der Identitätsentwicklung
Ein hoch mobiler Lebensstil bringt auch Schwierigkeiten mit sich, denn letztlich ist jeder Umzug mit dem Verlust des bisherigen Bezugssystems verbunden. TCKs sind daher immer wieder neu gefragt, ihre Identität an das veränderte Umfeld anzupassen. Bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit denen ich arbeite, zeigen sich die verschiedenen Typen der Identität in vielfältiger Ausprägung, es gibt jedoch auch einige übergreifende Aspekte, bei denen viele Schwierigkeiten haben:
- Die hybride Identität birgt das Risiko, dass sich Jugendliche durch das ständige Wechseln der Identität, nicht ausreichend selbst kennenlernen und ihren Identitätskern nur schwer definieren können. Manche fühlen sich dann verloren, einsam, nicht zugehörig und haben Schwierigkeiten sich von den Eltern altersentsprechend abzulösen. Einzelne sind verwirrt, entwickeln eine große Unruhe und werden fast „süchtig“ nach mehr Identitätswechsel. Manchmal verlängert sich die Adoleszenzphase bis Ende 20 oder Ausbildung/Studium werden häufiger gewechselt.
- Bei der Anti-Identität besteht die Möglichkeit, dass sich Jugendliche sehr negativ wahrnehmen. Ihr innerer Identitätskern wird durch die Zuschreibungen von außen, was sie alles nicht sind und wozu sie nicht passen, geprägt und beeinflusst ihre Selbstwahrnehmung. Manche haben ein schlechtes Selbstwertgefühl, können ihre Kompetenzen nicht gut einschätzen und zweifeln viel an ihren gemachten Erfahrungen. Immer wieder wird auch Scham für diesen (privilegierten) Lebensstil empfunden oder es findet eine Idealisierung dieser Lebensweise statt, die (automatisch) zu erneuter Ausgrenzung führt. Die Hauptschwierigkeit liegt in der mangelnden Integration beider Seiten und in der unbewussten Wiederholung gemachter Ausgrenzungserfahrungen.
- Wenn Jugendliche sich für eine angepasste Identität entscheiden, bleibt ein Großteil ihrer kulturellen Identität verborgen und es kann zu inneren Konflikten kommen, wenn diese Teile dauerhaft verdrängt oder gar verleugnet werden. Manche Jugendlichen ziehen sich stark zurück und haben nur wenige soziale Kontakte oder Freundschaften. Sie fühlen sich unverstanden und isoliert. Der Wunsch nach so hoher Anpassung kann Folge von (früheren) Überforderungssituationen in der Phase des Ankommens in einem neuen Land sein. Einige fühlen sich sehr selbstunsicher und bekommen nur schwer Zugang zu ihren Ressourcen.
Begleitung durch Krisen hindurch
Manchmal entwickeln sich, besonders in der sensiblen Phase des Erwachsenwerdens, aus inneren Konflikten oder nicht gelungenen Anpassungssituationen, seelische Symptome.
In der tiefenpsychologischen Psychotherapie werden Symptome als Bewältigungsstrategien verstanden, die die Seele wählt, um sich stabil zu halten. In meinen Beratungen geht es daher vor allem darum, das aufgetretene Symptom, wie z.B. Angst vor Menschenmengen, zu verstehen, einzuordnen und durch alternative Strategien zu ersetzen. Dafür stelle ich viele Fragen und versuche intensiv und individuell den jungen Menschen in seiner aktuellen Krise zu verstehen: Warum macht es in dieser Lebenssituation Sinn, sich so zu verhalten? Woher kenne ich solche Ängste? Was möchte mir die Angst mitteilen? Was hilft mir, mit der Angst umzugehen?
Besonders, wenn es bei jungen Menschen in der Phase der Ablösung von der Kernfamilie, um Fragen der Identität geht, ist eine fundierte Anamnese und ein Eintauchen in die umfangreiche TCK-Biografie wichtig, um Entwicklungsbesonderheiten bei der weiteren therapeutischen Arbeit zu berücksichtigen. Dies ist ein Prozess, in den ich die ganze Familie einbinde. Die Erfahrung hat gezeigt, dass sich dieser „Aufwand“ sehr lohnt, denn es führt bei allen Beteiligten zu mehr Verständnis für die Besonderheiten einer TCK-Identität. Ich habe schon oft erlebt, wie Eltern sich viel mehr in die Situation ihres Kindes hineinversetzen können und wie durch das Einfühlen in das Kind, die Beziehung gestärkt wird und Symptome sich verbessern oder gar auflösen.
Wenn auch Ihr Kind, in einer schwierigen Phase seiner Entwicklung feststeckt oder Sie als Familie Hilfe benötigen sollten, können Sie sich gerne bei mir melden. Entweder per Email oder über das Kontaktformular auf meiner Webseite.
Als weiterführende Literatur empfehle ich:
Tabea Lenhard: In Between. Identität und Zugehörigkeit Deutscher Third Culture Kids im Spannungsfeld der Kulturen
Atessa Zand: Doppelt anders. Die Situation und Identitätsentwicklung von Kindern und Jugendlichen in Deutschland mit einem deutschen und einem ausländischen Elternteil.